Ich war mal wieder die Letzte, die es mitbekommen hat. Da dachte ich neulich bei der Lektüre eines Autismus-Ratgebers, der auf autistische Ikonen in der Popkultur verwies, über meine liebsten Filme und ihre ProtagonistInnen nach und kam schon bald auf den wunderbaren, 2002 erschienenen Kinderfilm Lilo und Stitch – Stitch ist offenbar zu aufgedreht und zu sehr Alien, um eine Mainstream-Gehirnfunktion zu haben. Doch auch Lilo ist einfach zu cool, zu besonders, zu autonom und macht zu sehr ihr eigenes Ding, um vor ihren filmischen Mitmenschen als „normal“ durchzugehen.
Gedacht, gegoogelt – andere vor mir sind auch schon auf ähnliche Ideen gekommen und haben in verschiedenen, zumeist englischsprachigen Blog-, Reddit- oder Magazinbeiträgen im Rahmen der neurodivergenten Community Lilo als Mädchen auf dem Spektrum identifiziert und proklamiert. Meinen persönlichen Blick nicht nur auf Lilo, sondern auch auf ihr außerirdisches Pendant Stitch werde ich an dieser Stelle teilen – ohne jedoch die Bemerkung zu unterlassen, dass die Lesart der Figuren als neurodivergent vermutlich nicht die einzig mögliche ist, sondern eine Interpretation und ein damit einhergehendes Identifikationspotenzial sich auch auf andere Schwierigkeiten des Heranwachsens beziehen kann, so etwa auf den Verlust naher Bezugspersonen in der Kindheit. Ohne auf letztere Umstände hier näher einzugehen, ist doch vorab festzuhalten, dass es gerade das Schöne am Film ist, dass er auf verschiedene Weise und unter verschiedenen Gesichtspunkten inspirieren, trösten, unterhalten oder zum Nachdenken anregen kann.
„Möchtet ihr mit Puppen spielen?“
Die Geschichte ist angesiedelt in der natürlichen Idylle einer hawaiianischen Insel. Die siebenjährige Lilo hat den Verlust ihrer Eltern erlitten und lebt seitdem allein mit ihrer älteren Schwester Nani, die ihr Bestes gibt, Lilo aufzuziehen und für ein geregeltes und sicheres Leben zu sorgen. Nicht nur haben die beiden mit dem kritischen Auge des Jugendamtes zu kämpfen, auch fühlt Lilo sich sehr allein – Erwachsene verstehen ihre Art zu denken nicht, während Gleichaltrige sie aktiv ausgrenzen.
Schon zu Beginn des Filmes wird der Zuschauer Zeuge eines Rituals, an dem Lilo strikt festhält und das ihr persönlich, auch in Einbettung in einen größeren Sinnzusammenhang („Platsch bestimmt das Wetter“), wichtig ist: Der Fisch Platsch erhält an einem bestimmten Wochentag („Sandwich-Tag“) von Lilo ein Erdnussbutter-Sandwich. Als an diesem bestimmten Tag keine Erdnussbutter mehr im Haus aufzufinden ist, besteht sie darauf, erst neue Erdnussbutter zu besorgen und daraufhin Platsch aufzusuchen, wodurch sie in Kauf nimmt, zu spät zum Hula-Unterricht zu kommen. Lilo, die anderen Schülerinnen und auch der Hula-Lehrer scheinen es gewöhnt zu sein, dass Lilo auffällt, die Abläufe stört oder auf andere Weise Schwierigkeiten erzeugt. Für Lilo ergibt ihre Entschuldigung vollkommen Sinn, während ihr Lehrer bloß ratlos ist und eine ihrer „Freundinnen“ („die Rothaarige“) sie prompt zur Spinnerin erklärt.
Auch wenn Lilo auf derartige Beleidigungen spontan mit Wut reagiert und körperlich auf die Rothaarige losgeht, stellt sie doch nicht in Frage, dass ein freundschaftlicher Kontakt möglich ist – trotz des offensiv ablehnenden Verhaltens der anderen Kinder bezeichnet Lilo diese durchgehend als ihre Freundinnen, was zeigt, dass sie zwischenmenschliche Beziehungen nur schwer einzuschätzen weiß und sich gleichzeitig nach diesen sehnt. Es kommt zusätzlich eine ökonomische Dimension hinzu, aufgrund derer Lilo ausgeschlossen wird, als sie die anderen Mädchen fragt, ob sie gemeinsam mit Puppen spielen wollen. Lilo selbst hat nur eine eigens genähte, etwas schrullig aussehende Puppe namens „Schrulle“, vor der die anderen sich scheinbar ekeln, während sie selbst offenbar neu gekaufte Puppen besitzen. Lilo deutet im Film mehrfach an, dass sie und Nani sich kein neues Spielzeug leisten können.
An vielen weiteren Stellen zeigt sich, dass Lilo sich über soziale Umgangsformen nicht im Klaren ist oder soziale (Un-) Angemessenheiten nicht erkennt. So etwa, als sie den mysteriösen Jugendamts-Mitarbeiter Cobra Bobo direkt fragt, ob er schon mal jemanden umgebracht habe, oder wenn sie ihm erzählt, dass sie zu Hause „Haue kriegt“ („manchmal fünf Mal am Tag!“), bloß weil sie Nanis Gesten hinter Bobos Rücken falsch interpretiert. Einige der Aussagen, die Nani gestisch anleitet, hat Lilo scheinbar zuvor auswendig gelernt. Auch im weiteren Verlauf des Films zeigt Lilo sich ungeschickt in Bezug auf angemessenes Verhalten: Als Stitch bereits Teil der Familiengemeinschaft ist und Nani eine neue Arbeit sucht, trägt Lilo ungewollt mehrfach zum Misserfolg der Suche bei, indem sie Stitch z.B. dazu anregt, eine ältere Dame in einer Hotel-Lobby zu küssen, damit er romantische Umgangsformen lernt. Auch als sich die Situation weiter zuspitzt, indem Lilos und Nanis Zuhause scheinbar von Aliens angegriffen wird und Lilo sich telefonisch hilfesuchend an Cobra Bobo wendet, ist die Situation für sie erledigt, als sie mit dem Satz einfach auflegt: „Mein Hund hat die Kettensäge gefunden.“
Neben all diesen Schwierigkeiten, mit anderen Menschen umzugehen oder mit diesen auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen und Alltagssituationen (oder auch alles andere als alltägliche Situationen) zu händeln, ist Lilo doch gleichzeitig originell, einfallsreich, authentisch und auf ihre Weise sehr selbstbewusst. Ich bin sicher, sie ist das coolste siebenjährige Mädchen auf der Insel: Ihre Spezialinteressen reichen von Elvis Presley übers Hula-Tanzen und Fotografieren nicht normschöner Menschen am Strand bis hin zum kreativen Schaffen beim Nähen (siehe Schrulle) oder auf der Leinwand („das ist aus meiner Blau-Periode!“). Auch finden sich in Lilos Bücherregal Lektüren, die für ein kleines Mädchen eher ungewöhnlich scheinen: Neben dem kindertauglichen „Das hässliche Entlein“ stehen dort auch „Austern züchten – ist das was für dich?“, „Feuerschlucken zum Spaß und professionell“ sowie „Straßenkarten von Iowa“.
Ich fühle mich wie der Typ auf dem „Change my mind“-Meme, wenn ich bei all der sozialen Nonkonformität, dem Beharren auf rätselhaften und nur individuell sinnvollen Routinen und den besonderen Interessen Lilos ziemlich sicher bin, sie als autistisch bezeichnen zu können.
„Super süß und kuschelig!“
Anders als Lilo ist Stitch von Anfang an etwas eindeutiger als normabweichend markiert, da er nicht nur ein Außerirdischer ist, sondern selbst in der außerirdischen Gemeinschaft nicht akzeptiert wird, da er künstlich geschaffen wurde – von dem zunächst teuflisch-verrückt scheinenden Wissenschaftler Jamba. Dazu geschaffen, Zerstörung herbeizuführen oder vorsichtiger gesagt: Unordnung zu machen, befreit Stitch sich aus der Gefangenschaft der anderen Aliens und strandet auf Lilos Heimatinsel, wo sie ihn als vermeintlichen Hund adoptiert (obwohl sie zuvor mit dem Gedanken an einen Hummer gespielt hat, just saying).
Stitch ist sozial ebenso unangepasst wie Lilo. Zwar möchte er zunächst tatsächlich Dinge kaputt machen und verhält sich anderen Wesen gegenüber wenn nicht wirklich böse, so doch etwas boshaft, doch dies ist als eine filmische Überspitzung zu betrachten. Seine symbolisch geltende Haupteigenschaft ist zu Beginn des Films: Er stiftet Chaos.
Doch nicht nur das. Auch ist er mit einer im wahrsten Sinne übermenschlichen Energie ausgestattet, ist hyperaktiv und hat seine Impulse scheinbar nicht unter Kontrolle. So erlebt er starke Emotionen und Reaktionen, zuerst im Negativen, wenn er z.B. in Bezug auf sein Verhalten ermahnt und dadurch trotzig bis sauer wird oder wenn die Erkenntnis seines existentiellen Alleinseins ihn in tiefe Traurigkeit stürzt. Je mehr Vertrauen, Zuneigung, Struktur und familiäre Nähe er jedoch durch Lilo erfährt, desto deutlicher werden seine starken Gefühlsregungen auch im Positiven sichtbar: So tut er alles, um Lilo zu retten, als diese versehentlich von Kapitän Gantu anstelle von Stitch entführt wird. Stitch wird vom liebenswürdigen Bösewicht zum Helden.
Zusätzlich ist Stitch enorm intelligent. Schon vor der Galaktischen Föderation äußert Jamba, dass Stitchs Gehirn wie ein „Supercomputer“ funktioniere, was er etwa durch seine Anpassungsfähigkeit unter Beweis stellt, wenn er im Tierheim das Aussehen und Verhalten Lilos, der anderen Hunde und sogar das der Erdenwesen auf einem Plakat nachahmt, auf dem ein Hund und ein Kind sich umarmen. Er erlernt kurzfristig nicht nur in Worten zu sprechen, sondern adaptiert auch die erwartete Körpersprache und -haltung (auch wenn er nicht jederzeit bereit ist, seine diesbezüglichen Fähigkeiten einzusetzen). Auch offenbart sich seine herausragende Kreativität in einem Schaffensakt im Hyperfokus: Als die Inspiration ihn packt, baut er in Sekundenschnelle San Francisco aus Büchern und herumliegendem Zeug aus Lilos Zimmer nach. (Zwar reißt er es danach wieder nieder, aber das macht den vorigen Akt nicht ungeschehen und reiht sich dennoch in ein Ausleben seiner speziellen Faszinationen ein.)
Stitch funktioniert von Natur aus anders als die anderen Wesen, egal ob Menschen oder Aliens. Dass er dies versucht, vor anderen zu verbergen, indem er seine zusätzlichen Gliedmaßen und Fühler einzieht, kann als Symbol für Masking betrachtet werden: Das Bestreben, die eigenen Schwierigkeiten in der Einpassung ins soziale Gefüge zu verbergen, um als neurotypisch durchzugehen. Lilo nimmt ihn von Anfang an so, wie er ist, und findet ihn kein bisschen komisch, während die Neurotypen im Film, darunter Nani, ihn sofort als geradezu beängstigend irritierend wahrnehmen. Obwohl Stitch im Verlauf des Films sein Bestes tut, um den Anforderungen gerecht zu werden, indem er von Lilo etwa sozialen Umgang oder Musizieren zu erlernen versucht, wird die Schuld des funktionalen Versagens des ganzen Familiengefüges ihm gegeben – als Cobra Bobo Lilo am nächsten Tag abzuholen ankündigt, beerdigt Nanis Freund David seine Hoffnung, dass Nani und Lilo es schaffen würden, mit den an Stitch gerichteten harten Worten: „Doch dann kamst du.“
Zum Glück bleibt es nicht hierbei. Da Stitch nicht nur einige mutmaßlich autistische Züge, sondern auch eindeutige Zeichen von ADHS aufweist, braucht er vor allem eins: Ein Umfeld, das akzeptierend und verständnisvoll ist und seine individuellen Bedürfnisse und Stärken fördert.
„Ohana heißt Familie und Familie heißt, dass alle zusammenhalten.“
Nachdem die Misere ihren Tiefpunkt erreicht hat, Lilos und Nanis Haus zerstört ist, Lilo entführt und Stitch von Jamba und seinem Begleiter Pliiklii gefangen genommen worden ist, ereignet sich eine überraschende Wendung zum Guten: Nani und die Aliens tun sich unerwartet zusammen, um Lilo zu retten. Dies gelingt nicht nur, auch kann die Vorsitzende der Galaktischen Föderation davon überzeugt werden, dass Stitch auf der Erde bleiben darf. Eine neue und vielfältige Gemeinschaft nach einem erweiterten Familienbegriff bildet sich: Nani und David, Lilo und Stitch sowie Jamba und Pliiklii bauen das Haus erneut auf und leben fortan zusammen, mit Cobra Bobo als regelmäßigem Besucher.
Aus ihren Ursprungsgemeinschaften verstoßen zu werden (Lilo aus ihrer „Freundinnen“-Gruppe und Stitch aus der Alien-Gesellschaft), bedeutete für Lilo und Stitch also nicht das Ende der Gemeinschaftlichkeit. Wenn Nani Cobra Bobo gegenüber noch zum Ende der Geschichte hin proklamiert, sie sei die Einzige, die Lilo versteht, verkennt sie zwei Dinge: Zum einen, dass Lilo nicht unbedingt verstanden, sondern in erster Linie akzeptiert werden muss, wie sie ist, und zum anderen, dass es sehr wohl noch jemanden gibt, der sie versteht: Stitch. Sowohl er als auch Lilo finden Liebe, Freundschaft und Gemeinschaft unter sich als gleichermaßen „Andersartigen“ und schaffen es innerhalb dieses Prozesses der Gemeinschaftsbildung, auch weitere Wesen in ihren neurodiversen Kreis miteinzubeziehen. Besonders bei Stitchs Outing als Alien wird deutlich, dass dieses zwar kurzfristig negative Reaktionen hervorruft, aber auf lange Sicht für mehr Verständnis und Akzeptanz sowie ein liebevolles Einhegen in die Ohana, die erweiterte Familie, gesorgt hat. Denn Lilo hat Stitch bereits bei ihrer ersten Begegnung als Familienmitglied angenommen und wir wissen ja: „Ohana heißt Familie und Familie heißt, dass alle zusammenhalten.“
An den Film wird man gerne erinnert. Danke dafür. Auch wenn es eigentlich so offensichtlich ist habe ich die beiden tatsächlich nie als besonders abweichend empfunden (zumindest als Kind) sondern eher die Probleme dort gesehen wo sie nicht verstanden wurden.
Und was ein ganz witziges Easter Egg wäre, wenn das Buch über das Feuerschlucken ein Geschenk von Nanis Freund wäre.
Sehr schöner Text! Ich würde richtig nostalgisch beim Lesen. Denn ich hab den Film als Kind dutzende Male gesehen, unter anderem weil es bis heute der Lieblingsfilm meiner Mutter ist 😄